Verkehrsrecht Urteile 2016 |
24.03.2016
Mit am 11. März 2016 verkündetem Urteil hat das Landgericht Hannover (LG) die Klage einer Frau auf Schadensersatz und Schmerzensgeld im Zusammenhang mit einem Sturz im Linienbus der Beklagten abgewiesen (Az.: 10 O 75/15). Die seinerzeit 48-jährige Klägerin bestieg den Linienbus der Beklagten an der Haltestelle. Nach Vorzeigen der Fahrkarte ging sie mit einer Tüte in jeder Hand an mehreren Sitzplätzen vorbei durch den Mittelgang des Busses und steuerte einen freien Sitzplatz im Bereich um die vierte Sitzreihe an. Zu dieser Zeit stand der Bus noch an der Haltestelle. Als der Fahrer des Busses anschließend anfuhr, um die Haltestelle zu verlassen, stürzte die Klägerin im Mittelgang, da sie keinen sicheren Halt hatte.
Der Fahrer hielt den Bus daraufhin nicht an, sondern fuhr bis zur nächsten Haltestelle weiter und kontaktierte dort den Rettungsdienst. Nach dessen Eintreffen wurde die Klägerin erstversorgt und sodann zu einem Arzt gebracht. Infolge des Sturzes erlitt die Klägerin erhebliche Schmerzen und zog sich eine Quadrizepssehnenruptur unter vollständigem Abriss der Patella rechts zu, die im Rahmen eines stationären Krankenhausaufenthaltes operativ sowie im Anschluss daran für sechs Wochen postoperativ durch Tragen einer Orthese behandelt worden ist. Mit ihrer Klage begehrte die Klägerin im Wesentlichen ein Schmerzensgeld von 5.000 Euro sowie verletzungsbedingte Mehraufwendungen von 5.827,90 Euro.
Das LG hat die Klage abgewiesen. Aufgrund der durchgeführten Beweisaufnahme konnte die klägerische Behauptung eines besonders ruckartigen Anfahrens des Busses entkräftet werden. Der Busfahrer hatte überzeugend ausgeführt, das Gaspedal beim Anfahren nur leicht angetippt zu haben, wodurch die Haltestellenbremse gelöst worden und der Bus nur mit dem sog. Kraftschluss des Leerlaufes ohne weiteres Gasgeben geradeaus angefahren sei. Erst nach Verlassen der Haltestelle und nach dem Sturz der Klägerin habe er Gas gegeben. Im unmittelbaren Haltestellenbereich habe er wegen des nahen Gymnasiums stets mit über die Straße laufenden Schülern rechnen müssen.
Der durch den Kraftschluss des Leerlaufes bei Linienbussen entstehende allgemeine Anfahrtruck sei zudem üblich. Hiermit müsse ein Fahrgast grundsätzlich rechnen und sein Verhalten darauf einstellen. Tut er dies nicht, begründe dies keinen Schuldvorwurf. Ebenso sei dem Busfahrer nicht vorwerfbar, dass er sich auf die mit dem Anfahren verbundenen Tätigkeiten konzentriert und die Klägerin nicht weiter beobachtet hatte. Der Fahrer eines Linienbusses dürfe darauf vertrauen, dass Fahrgäste im eigenen Interesse ihrer Verpflichtung nachkommen, sich stets einen festen Halt zu verschaffen.
Etwas anderes gelte ausnahmsweise dann, wenn für den Busfahrer leicht erkennbare Anhaltspunkte bestehen, dass der zugestiegene Fahrgast nicht in der Lage sein könnte, den normalerweise zugrunde zulegenden Anforderungen, sich einen sicheren Halt zu verschaffen, zu genügen. Nur in solchen Fallkonstellationen wie bei einer ohne weiteres erkennbaren schweren Behinderung, die dem Fahrer eine Vorsichtsmaßnahme geradezu aufdrängen muss, könne verlangt werden, dass er sich vor dem Anfahren darüber vergewissert, dass der Fahrgast nicht der Gefahr ausgesetzt ist, zu stürzen. An solchen Anhaltspunkten fehle es hier jedoch: Die Klägerin war weder bewegungsmotorisch eingeschränkt noch habe ihr mittleres Alter zu erhöhter Aufmerksamkeit gezwungen.
Auch eine ''Behinderung'' der Klägerin durch ein (etwaig) für den Fahrer erkennbar erhebliches Gewicht der Einkaufstüten sei nicht als relevante Behinderung anzusehen. Es handele sich insoweit nicht um eine zwingende, unbehebbare Behinderung, welcher nur durch Rücksichtnahme seitens des Fahrers abgeholfen werden konnte. Vielmehr hätte sich die Klägerin im Interesse ihrer eigenen Sicherheit beispielsweise mit einer Tüte zu dem angestrebten Sitzplatz begeben und sich dabei mit einer Hand festhalten, sodann die Tüte abstellen und die zweite Tüte nachholen können, oder aber sich beim Fahrer erkundigen können, ob der Bus noch so lange halten werde, dass sie mit beiden Tüten den angestrebten Sitzplatz erreichen werde.
Konnte die Klägerin daher selbst in zumutbarer Weise für ihre Sicherheit sorgen, so habe sich für den Busfahrer nicht die Überlegung aufdrängen müssen, dass die Klägerin beim Anfahren möglicherweise stürzen werde. Daher sei er nicht verpflichtet gewesen, sie nach Vorzeigen des Fahrausweises weiter zu beobachten. Hielte man den Fahrer für verpflichtet, derartige Beobachtungen bei jeglichen Fahrgästen mit Gepäckstücken anzustellen, auch wenn sich kein Hinweis auf eine unbehebbare Behinderung des Fahrgastes ergibt, so würde das in unvertretbarem Maß seine Aufmerksamkeit von der Beobachtung derjenigen Vorgänge ablenken, welche er im Interesse der Verkehrssicherheit im Auge behalten muss.
(Quelle: PM des LG)