Arbeitsrecht Urteile 2017 |
11.07.2017
Mit Urteil vom 11. Juli 2017 hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) entschieden, dass die Regelungen des Tarifeinheitsgesetzes weitgehend mit dem Grundgesetz (GG) vereinbar sind (Az.: 1 BvR 1571/15, 1 BvR 1477/16, 1 BvR 1043/16, 1 BvR 2883/15, 1 BvR 1588/15). Die Auslegung und Handhabung des Gesetzes muss allerdings der Tarifautonomie Rechnung tragen; über im Einzelnen noch offene Fragen haben die Fachgerichte zu entscheiden.
Unvereinbar ist das Gesetz mit dem GG nur insoweit, als Vorkehrungen dagegen fehlen, dass die Belange der Angehörigen einzelner Berufsgruppen oder Branchen bei der Verdrängung bestehender Tarifverträge einseitig vernachlässigt werden. Der Gesetzgeber muss insofern Abhilfe schaffen. Bis zu einer Neuregelung darf ein Tarifvertrag im Fall einer Kollision im Betrieb nur verdrängt werden, wenn plausibel dargelegt ist, dass die Mehrheitsgewerkschaft die Belange der Angehörigen der Minderheitsgewerkschaft ernsthaft und wirksam in ihrem Tarifvertrag berücksichtigt hat. Das Gesetz bleibt mit dieser Maßgabe ansonsten weiterhin anwendbar. Die Neuregelung ist bis zum 31. Dezember 2018 zu treffen.
Das Tarifeinheitsgesetz regelt Konflikte im Zusammenhang mit der Geltung mehrerer Tarifverträge in einem Betrieb. Es ordnet an, dass im Fall der Kollision der Tarifvertrag derjenigen Gewerkschaft verdrängt wird, die weniger Mitglieder im Betrieb hat, und sieht ein gerichtliches Beschlussverfahren zur Feststellung dieser Mehrheit vor. Der Arbeitgeber muss die Aufnahme von Tarifverhandlungen den anderen tarifzuständigen Gewerkschaften bekannt geben und diese mit ihren tarifpolitischen Forderungen anhören. Wird ihr Tarifvertrag im Betrieb verdrängt, hat die Gewerkschaft einen Anspruch auf Nachzeichnung des verdrängenden Tarifvertrags.
Mit den nun entschiedenen Verfassungsbeschwerden wenden sich Berufsgruppengewerkschaften, Branchengewerkschaften, ein Spitzenverband sowie ein Gewerkschaftsmitglied unmittelbar gegen das Tarifeinheitsgesetz und rügen vornehmlich eine Verletzung der Koalitionsfreiheit. Das Grundrecht der Koalitionsfreiheit ist in erster Linie ein Freiheitsrecht. Es schützt alle koalitionsspezifischen Verhaltensweisen, insbesondere die Tarifautonomie und Arbeitskampfmaßnahmen, die auf den Abschluss von Tarifverträgen gerichtet sind. Das Grundrecht vermittelt jedoch kein Recht auf absolute tarifpolitische Verwertbarkeit von Schlüsselpositionen und Blockademacht zum eigenen Nutzen.
Das Grundrecht enthält auch keine Bestandsgarantie für einzelne Koalitionen. Allerdings wird die Koalitionsfreiheit ausdrücklich für jedermann und alle Berufe garantiert. Daher wären staatliche Maßnahmen mit dem Grundrecht unvereinbar, die gerade darauf zielten, bestimmte Gewerkschaften aus dem Tarifgeschehen heraus zu drängen oder bestimmten Gewerkschaftstypen, wie etwa Berufsgewerkschaften, generell die Existenzgrundlage zu entziehen. Darüber hinaus ist die Selbstbestimmung über die innere Ordnung ein wesentlicher Teil der Koalitionsfreiheit. Das umfasst die Entscheidung über das eigene Profil auch durch Abgrenzung nach Branchen, Fachbereichen oder Berufsgruppen; bestimmte Vorgaben hierzu wären unzulässig.
Die Regelung zur Verdrängung eines Tarifvertrags im Kollisionsfall greift in die Koalitionsfreiheit ein. Sie kann außerdem grundrechtsbeeinträchtigende Vorwirkungen entfalten. Denn sowohl die drohende Verdrängung des eigenen Tarifvertrags als auch die gerichtliche Feststellung, in einem Betrieb in der Minderheit zu sein, können eine Gewerkschaft bei der Mitgliederwerbung und der Mobilisierung ihrer Mitglieder für Arbeitskampfmaßnahmen schwächen und Entscheidungen zur tarifpolitischen Ausrichtung und Strategie beeinflussen. Beeinflusst wird auch die grundrechtlich geschützte Entscheidung, ob und inwieweit mit anderen Gewerkschaften kooperiert wird und welches Profil sich eine Gewerkschaft gibt.
Dagegen wird das Grundrecht, mit den Mitteln des Arbeitskampfes auf den jeweiligen Gegenspieler Druck und Gegendruck ausüben zu können, um zu einem Tarifabschluss zu gelangen, durch das Tarifeinheitsgesetz nicht angetastet. Die Unsicherheit im Vorfeld eines Tarifabschlusses über das Risiko, dass ein Tarifvertrag verdrängt werden kann, begründet weder bei klaren noch bei unsicheren Mehrheitsverhältnissen ein Haftungsrisiko einer Gewerkschaft bei Arbeitskampfmaßnahmen. Dies haben die Arbeitsgerichte ggf. in verfassungskonformer Anwendung der Haftungsregeln sicherzustellen.
Das Grundrecht der Koalitionsfreiheit berechtigt den Gesetzgeber, das Verhältnis der sich gegenüber stehenden Tarifvertragsparteien zu regeln, um strukturelle Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass Tarifverhandlungen einen fairen Ausgleich ermöglichen und damit angemessene Wirtschafts- und Arbeitsbedingungen hervorbringen können. Zur Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie gehört aber nicht nur die strukturelle Parität zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite.
Zu ihr gehören auch die Bedingungen der Aushandlung von Tarifverträgen, welche die Entfaltung der Koalitionsfreiheit dort sichern, wo auf Seiten der Gewerkschaften oder der Arbeitgeber mehrere Akteure untereinander konkurrieren. Auch hier verfügt der Gesetzgeber über einen weiten Handlungsspielraum. Er ist nicht gehindert, Rahmenbedingungen zu verändern, so aus Gründen des Gemeinwohls, um gestörte Paritäten wieder herzustellen oder um einen fairen Ausgleich auf einer Seite zu sichern.
Die Regelungen des Tarifeinheitsgesetzes sind in der verfassungsrechtlich gebotenen Auslegung und Handhabung weitgehend mit dem Grundrechts auf Koalitionsfreiheit vereinbar. Zweck des Gesetzes ist es, Anreize für ein kooperatives Vorgehen der Arbeitnehmerseite in Tarifverhandlungen zu setzen und so Tarifkollisionen zu vermeiden. Damit verfolgt der Gesetzgeber das legitime Ziel, zur Sicherung der strukturellen Voraussetzungen von Tarifverhandlungen das Verhältnis der Gewerkschaften untereinander zu regeln.
Die angegriffenen Regelungen sind geeignet, dieses Ziel zu erreichen, auch wenn nicht gewiss ist, dass der gewollte Effekt tatsächlich eintritt. Es bestehen auch keine verfassungsrechtlich durchgreifenden Bedenken gegen ihre Erforderlichkeit. Jedenfalls steht kein zweifelsfrei gleich wirksames, Gewerkschaften und ihre Mitglieder aber weniger beeinträchtigendes Mittel zur Verfügung, um die legitimen Ziele zu erreichen. Der Gesetzgeber hat den ihm hier zustehenden Beurteilungs- und Prognosespielraum nicht verletzt.
Die mit dem Tarifeinheitsgesetz verbundenen Belastungen sind in einer Gesamtabwägung überwiegend zumutbar, wenn ihnen durch eine restriktive Auslegung der Verdrängungsregelung, ihrer verfahrensrechtlichen Einbindung sowie durch eine weite Interpretation des Nachzeichnungsanspruchs Schärfen genommen werden. Das Gewicht der Beeinträchtigung durch die Regelungen ist dadurch relativiert, dass es die Betroffenen in gewissem Maße selbst in der Hand haben, ob es zur Verdrängungswirkung kommt oder nicht. Die Verdrängungsregelung ist tarifdispositiv; allerdings müssen dazu alle betroffenen Tarifvertragsparteien vereinbaren, dass die Kollisionsnorm nicht zur Anwendung kommt. Zudem ist die Verdrängungswirkung im Fall der Tarifkollision im Betrieb schon nach der gesetzlichen Regelung mehrfach beschränkt.
Darüber hinaus sind die Arbeitsgerichte gehalten, Tarifverträge im Kollisionsfall so auszulegen, dass die durch eine Verdrängung beeinträchtigten Grundrechtspositionen möglichst weitgehend geschont werden. Wenn und soweit es objektiv dem Willen der Tarifvertragsparteien des Mehrheitstarifvertrags entspricht, eine Ergänzung ihrer Regelungen durch Tarifverträge konkurrierender Gewerkschaften zuzulassen, werden diese nicht verdrängt.
Besteht Grund zu der Annahme, dass Regelungen kollidierender Tarifverträge nebeneinander bestehen sollen, findet die Verdrängung dort nicht statt. Um unzumutbare Härten zu vermeiden, dürfen bestimmte tarifvertraglich garantierte Leistungen nicht verdrängt werden. Das betrifft längerfristig bedeutsame Leistungen, auf die sich Beschäftigte in ihrer Lebensplanung typischerweise einstellen und auf deren Bestand sie berechtigterweise vertrauen, wie z. B. Leistungen zur Alterssicherung, zur Arbeitsplatzgarantie oder zur Lebensarbeitszeit. Der Gesetzgeber hat dafür keine Schutzvorkehrungen getroffen.
Hier müssen die Gerichte von Verfassungs wegen sicherstellen, dass die Verdrängung eines Tarifvertrags zumutbar bleibt. Lassen sich die Härten nicht in der Anwendung des für die weitere Gewährung solcher Leistungen maßgeblichen Rechts vermeiden, ist der Gesetzgeber gehalten, dies zu regeln. Die beeinträchtigende Wirkung wird auch durch die Auslegung der Kollisionsregelung gemildert, wonach die Verdrängung eines Tarifvertrags nur solange andauert, wie der verdrängende Tarifvertrag läuft und kein weiterer Tarifvertrag eine Verdrängung bewirkt.
Der verdrängte Tarifvertrag lebt danach für die Zukunft wieder auf. Ob dies anders zu beurteilen ist, um ein kurzfristiges Springen zwischen verschiedenen Tarifwerken zu vermeiden, müssen die Fachgerichte entscheiden. Die Belastungswirkungen der Verdrängung sind durch den Anspruch auf Nachzeichnung eines anderen Tarifvertrags gemildert. Dieser ist verfassungskonform so auszulegen, dass er sich auf den gesamten verdrängenden Tarifvertrag bezieht.
Der Nachzeichnungsanspruch korrespondiert so zumindest mit der Reichweite der Verdrängung, kann aber auch weiter reichen. Die Beeinträchtigung wird auch durch Verfahrens- und Beteiligungsrechte der von der Verdrängung betroffenen Gewerkschaft gemindert. Der Arbeitgeber ist verpflichtet, die Aufnahme von Tarifverhandlungen rechtzeitig im Betrieb bekannt zu geben. Die nicht selbst verhandelnde, aber tarifzuständige Gewerkschaft hat einen Anspruch darauf, dem Arbeitgeber ihre Vorstellungen vorzutragen. Diese Verfahrenspositionen sind als echte Rechtspflichten zu verstehen.
Werden sie verletzt, liegen die Voraussetzungen für eine Verdrängung nicht vor. Die Ungewissheit des Arbeitgebers über die tatsächliche Durchsetzungskraft einer Gewerkschaft aufgrund deren Mitgliederstärke ist für die geschützte Parität zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberseite von besonderer Bedeutung. Das neu geregelte Beschlussverfahren geht mit dem Risiko einher, dass es zur Offenlegung der Mitgliederstärke der Gewerkschaften kommt. Die Fachgerichte müssen die prozessrechtlichen Möglichkeiten nutzen, um dies möglichst zu vermeiden. Wenn dies nicht in allen Fällen gelingt, ist das mit Blick auf das gesetzgeberische Ziel jedoch insgesamt zumutbar.
Die mit der Verdrängung eines Tarifvertrags verbundenen Beeinträchtigungen sind insoweit unverhältnismäßig, als Schutzvorkehrungen gegen eine einseitige Vernachlässigung der Angehörigen einzelner Berufsgruppen oder Branchen durch die jeweilige Mehrheitsgewerkschaft fehlen. Der Gesetzgeber hat keine Vorkehrungen getroffen, die sichern, dass in einem Betrieb die Interessen von Angehörigen kleinerer Berufsgruppen, deren Tarifvertrag verdrängt wird, hinreichend berücksichtigt werden. So ist nicht auszuschließen, dass auch im Fall der Nachzeichnung deren Arbeitsbedingungen und Interessen mangels wirksamer Vertretung in der Mehrheitsgewerkschaft unzumutbar übergangen werden. Der Gesetzgeber ist gehalten, hier Abhilfe zu schaffen; er hat dabei einen weiten Gestaltungsspielraum.
Die teilweise Verfassungswidrigkeit der Vorschrift führt nicht zu dessen Nichtigerklärung, sondern nur zur Feststellung seiner Unvereinbarkeit mit dem GG. Die Defizite betreffen nicht den Kern der Regelung. Die strukturellen Rahmenbedingungen der Aushandlung von Tarifverträgen, auf die der Gesetzgeber hier zielt, sind dagegen von großer Bedeutung. Bis zu einer Neuregelung darf die Vorschrift daher nur mit der Maßgabe angewendet werden, dass eine Verdrängungswirkung erst in Betracht kommt, wenn plausibel dargelegt werden kann, dass die Mehrheitsgewerkschaft die Interessen der Berufsgruppen, deren Tarifvertrag verdrängt wird, ernsthaft und wirksam in ihrem Tarifvertrag berücksichtigt hat.
(Quelle: PM des BVerfG)