Familienrecht Urteile 2019 |
05.09.2019
Der Bundesgerichtshof (BGH) hat mit Urteil vom 22. August 2019 die Schutzpflichten eines Wohnheims für Menschen mit einer geistigen Behinderung gegenüber den Bewohnern präzisiert (Az.: III ZR 113/18). Die Beklagte ist Trägerin eines solchen Wohnheims.
Die 1969 geborene Klägerin lebte dort seit März 2012. Sie ist geistig behindert und hat eine deutliche Intelligenzminderung. Sie nimmt die Beklagte auf Schmerzensgeld und Schadensersatz wegen Verbrühungen in Anspruch, die sie in der Einrichtung erlitt.
Im April 2013 beabsichtigte die Klägerin, ein Bad zu nehmen, und bat eine der Betreuerinnen des Heimes um eine entsprechende Erlaubnis. Diese wurde ihr erteilt. Die Klägerin ließ daraufhin heißes Wasser in eine mobile, in der Dusche bereit gestellte Sitzbadewanne ein, wobei die Temperaturregelung über einen Einhebelmischer ohne Begrenzung der Heißwassertemperatur erfolgte.
Anders als in früheren Fällen war das ausströmende Wasser so heiß, dass die Klägerin schwerste Verbrühungen an beiden Füßen und Unterschenkeln erlitt. Sie schrie lautstark, konnte sich aber nicht selbst aus der Situation befreien. Dies gelang erst, als ein anderer Heimbewohner ihr zur Hilfe eilte, das Wasser abließ und eine Pflegekraft herbeirief.
Bei der nachfolgenden Heilbehandlung im Krankenhaus wurden mehrere Hauttransplantationen durchgeführt. Es kam zu erheblichen Komplikationen. Sie ist inzwischen nicht mehr gehfähig und auf einen Rollstuhl angewiesen. Außerdem verschlechterte sich ihr psychischer Zustand, was sich u. a. in häufigen und anhaltenden Schreianfällen äußert.
Die Klägerin hat geltend gemacht, das austretende Wasser müsse annähernd 100°C heiß gewesen sein. Aber selbst eine konstante Einstellung der Wassertemperatur auf "nur" 60°C sei zu hoch. Zur Abtötung etwaiger Keime genüge es, das Wasser einmal am Tag auf 60°C aufzuheizen.
In der einschlägigen DIN-Norm werde für bestimmte Einrichtungen wie Krankenhäuser, Schulen und Seniorenheime eine Höchsttemperatur von 43°C, in Kindergärten und Pflegeheimen sogar von nur 38°C empfohlen. Es sei pflichtwidrig gewesen, sie ohne Aufsicht und insbesondere ohne Kontrolle der Wassertemperatur ein Bad nehmen zu lassen.
Der BGH hat entschieden: Der Heimbetreiber hat die Pflicht, unter Wahrung der Würde und des Selbstbestimmungsrechts der ihm anvertrauten Bewohner diese vor Gefahren zu schützen, die sie nicht beherrschen. Welchen konkreten Inhalt die Verpflichtung hat kann nicht generell, sondern nur aufgrund einer Abwägung sämtlicher Umstände des jeweiligen Einzelfalls entschieden werden.
In diese Einzelfallabwägung können auch technische Regelungen wie insbesondere DIN-Normen einzubeziehen sein, die in Hinblick auf eine bestimmte Gefahrenlage bestehen. Zwar haben DIN-Normen als technische Regeln keine normative Geltung.
Da sie jedoch die widerlegliche Vermutung in sich tragen, den Stand der allgemein anerkannten Regeln der Technik wiederzugeben, sind sie zur Bestimmung des nach der Verkehrsauffassung Gebotenen in besonderer Weise geeignet und können deshalb regelmäßig zur Feststellung von Inhalt und Umfang bestehender Verkehrssicherungspflichten herangezogen werden.
Ein Heimbewohner, der dem Heimträger zum Schutz seiner körperlichen Unversehrtheit anvertraut ist, kann erwarten, dass der Heimträger ihn jedenfalls vor einer in einer DIN-Norm beschriebenen Gefahrenlage schützt, wenn er selbst auf Grund körperlicher oder geistiger Einschränkungen nicht in der Lage ist, die Gefahr eigenverantwortlich zu erkennen und angemessen auf sie zu reagieren.
Um die daraus folgende Obhutspflicht zu erfüllen, muss der Heimträger, soweit dies mit einem vernünftigen finanziellen und personellen Aufwand möglich und für die Heimbewohner sowie das Pflege- und Betreuungspersonal zumutbar ist, nach seinem Ermessen entweder die Empfehlungen der DIN-Norm umsetzen oder aber die erforderliche Sicherheit gegenüber der dieser Norm zugrunde liegenden Gefahr auf andere Weise gewährleisten, um Schäden der Heimbewohner zu vermeiden.
Dementsprechend war auch der Inhalt der seit Juni 2005 geltenden einschlägigen DIN-Norm in den Blick zu nehmen. Hiernach sind Anlagen für erwärmtes Trinkwasser so zu gestalten, dass das Risiko von Verbrühungen gering ist. Entsprechend wird ausgeführt, dass an "Entnahmestellen mit besonderer Beachtung der Auslauftemperaturen" (z. B. Krankenhäuser, Schulen, Seniorenheime) thermostatische Mischventile oder -batterien mit Begrenzung der oberen Temperatur eingesetzt werden sollten. Dabei wird eine Temperatur von höchstens 43°C empfohlen.
Der dadurch vorgesehene Schutz vor Verbrühungen ist im vorliegenden Fall nicht deshalb ohne Relevanz, weil die DIN-Norm erst im Juni 2005 eingeführt wurde und primär die Planung von Trinkwasserinstallationen regelt, ohne die Nachrüstung älterer technischer Anlagen explizit vorzusehen.
Denn der DIN ist allgemeingültig zu entnehmen, dass bei Warmwasseranlagen das Risiko von Verbrühungen besteht, wenn die Auslauftemperatur mehr als 43°C beträgt, und deshalb in Einrichtungen mit einem besonders schutzbedürftigen Benutzerkreis spezielle Sicherheitsvorkehrungen zur Verminderung des Risikos von Verbrühungen erforderlich sind.
Nach dem sicherheitstechnischen Zweck der Empfehlung sollen die geschilderte apparative Temperaturbegrenzung oder andere geeignete Sicherheitsvorkehrungen überall dort zum Einsatz kommen, wo im Rahmen einer für das Wohl der Bewohner verantwortlichen Einrichtung Personen leben, die auf Grund ihrer körperlichen oder geistigen Verfassung nicht in der Lage sind, die mit heißem Wasser verbundenen Gefahren zu beherrschen, und deshalb ein besonderer Schutz vor Verbrühungen erforderlich ist.
(Quelle: Pressemitteilung des Bundesgerichtshofs vom 22.08.2019)